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Writer's pictureBrigitte Leeser

Tintenblau. Eine Farbe zum Eintauchen – von Tatja Drechsel

Hatschi!!!!“ Es kribbelte in meiner Nase als würden 1000 Ameisen sich dort häuslich einrichten. Jetzt begannen auch noch meine Augen zu tränen und der Verschlag auf dem Dachboden verschwamm als würde ich ihn nur noch durch die Spinnweben wahrnehmen, die überall zu sein schienen, Dabei begann es draußen bereits zu dämmern und das bläuliche Licht bahnte sich seinen Weg durch die Dachluke. Mit jedem weiteren vorsichtigen Schritt, den ich mühsam tastend unternahm, wirbelte nur noch mehr Staub auf und nahm mir Atem und Sicht. Irgendwo hier oben mussten doch die alten Kartons stehen, in die meine Mutter vor Jahren meine Puppen gesperrt hatte. Damals war ich traurig gewesen, aber jetzt freute ich mich, sie meiner dreijährigen Kusine Lina geben zu können. „Auuuu!“ Ich hielt meinen Fuß, ich war gegen irgendetwas Hartes gestoßen. Der Staub legte sich und ich konnte den großen Pappkarton erkennen, der mir zumindest einen blauen Fleck beschert hatte. „Krimskrams“ stand darauf. Ich kniete mich auf den Boden, öffnete den Pappdeckel und zog nach und nach allerlei Zeug heraus. Einen alten Teddy ohne Augen, an den ich mich gar nicht erinnern konnte, einige Päckchen mit Briefen, die sorgsam mit Bändern zusammengehalten waren. Keine Puppen! Gerade wollte ich den Deckel wieder schließen, da entdeckte ich ganz unten ein kleines Buch mit veilchenblauem Einband und einer schnörkeligen Goldschrift: „Traumtagebuch“. Ich hatte es noch nie zuvor gesehen, doch erschien es mir seltsam vertraut und übte eine ganz eigenartige Anziehung auf mich aus. Ich nahm es vorsichtig an mich und kletterte auf die kleine Kommode unterhalb der Dachluke, um im Dämmerlicht zumindest ein wenig darin lesen zu können. Wahllos schlug ich eine Seite auf: “… auf dem Rücken des riesigen schimmernden Morphofalters ritt ich zur Blauen Stunde durch den immer dunkler werdenden Himmel, an dem bereits der Abendstern zu erkennen war. Trag mich mein Freund, flieg mit mir in das blaue Land hinter der Dämmerung und wenn wir dort angekommen sind….“ Ich stockte, der Satz hörte abrupt auf und ein riesiger dunkelblauer Tintenfleck bedeckte den Rest der Seite. Kam es mir nur so vor oder schimmerte der Fleck feucht? Mein Finger folgte den Buchstaben und ich fühlte den Tintenfleck. Es war nicht die Seite, die ich fühlte, der Tintenfleck war tiefer, er bildete einen Sog, der mich festhielt. Ich wollte meine Hand zurückziehen, aber es war zu spät, der Strudel erfasste mich, mir wurde ganz schwindelig und ich fühlte, wie ich mitgerissen wurde. Der Fleck um mich herum wurde zum See, dann zum Meer. Panik ergriff mich. Sollte ich in diesem Tintenmeer ertrinken? Ich schwamm, strampelte und schließlich gelang es mir, die Oberfläche zu erreichen. Ich tauchte auf und schnappte nach Luft. Das Meer um mich herum trocknete so schnell wie es entstanden war und ich fühlte festen Boden unter meinen Füßen. Ich stand auf einer Lichtung, umgeben von riesigen dunkelblauen Tannen und auch das Gras wirkte blau. Ich rieb mir die Augen. Mir kam es vor, als würde ich durch eine blaue Brille schauen. Aber ich hatte keine Brille auf der Nase! Ich blickte mich um: Blaue Blumen blühten auf einer blauen Wiese, ein Bächlein schlängelte sich über kleine Steine, es hatte die Farbe der Tinte aus dem Buch. Einzig die Tageszeit schien noch gleichgeblieben, es war dämmrig, nicht mehr Tag und noch nicht Nacht. Da hörte ich ein glucksendes Geräusch, das wie ein fröhliches Plätschern klang. Der Bach war das nicht, es klang wie Kinderlachen. War ich etwa nicht allein in meinem seltsamen Traum? Ich folgte der Stimme immer tiefer und tiefer in den Wald hinein, bis dieser sich zu einer Ebene öffnete, auf der ein einzelner riesiger Baum stand, an dem an schier endlos erscheinenden Seilen eine Schaukel befestigt war. Sie bewegte sich im lauen Wind, doch sehen konnte ich Niemanden. „Hallo?“, fragte ich vorsichtig. „Schön, dass Du den Weg gefunden hast“, antwortete es aus dem Baum und es klang wie das Rauschen der Blätter. Sprach etwa der Baum zu mir? Ich starrte angestrengt in die Baumkrone. Plötzlich vernahm ich erneut das helle Lachen. Die Schaukel schwang hin und her und auf ihr saß ein kleines zartes Mädchen nicht viel älter als ich selbst. Ihr Gesicht war mir zugewandt und mir war, als würde ich es schon lange kennen. War es nicht dasselbe Lächeln und dieselben fröhlichen Augen, dieselben blonden Locken, die ich auf unzähligen Fotografien im Album meiner Großmutter so oft angeschaut hatte? Sogar das altmodische Kleid mit dem gerüschten Unterrock, der sich beim Schaukeln aufbauschte und wieder sittsam schloss, war mir von den Fotos bekannt. Nur war im Album meiner Oma alles grau, jetzt erschien es blau eingefärbt. Plumps! Das Mädchen sprang und landete vor meinen Füßen.

„Du bist Julia nicht war?“, sprach sie mich an. Ich nickte stumm: „Und du?", fragte ich. „Kann es möglich sein, dass du meine Urgroßmutter Elisabeth bist?“ Das Mädchen lachte erneut. „Das stimmt, aber bitte nenne mich nicht Urgroßmutter, das macht mich so furchtbar alt, nicht wahr? Hier an diesem Ort und um diese Zeit bin ich deine Freundin und du darfst mich Lisbeth nennen.“

„Wie bin ich hierher gelangt, wollte ich wissen und was machst Du hier?“ „Mein Tagebuch hat dir den Weg gezeigt.  Jeden Morgen habe ich noch vor dem Aufstehen im Bett darin geschrieben und gezeichnet, was immer ich in meinen Träumen erlebt hatte. Manches schien mir damals wirklicher zu sein als mein wahres Leben.“ „Das geht mir genauso“, rief ich erstaunt. „Aber nicht immer erinnere ich mich an all meine Träume“, fügte ich etwas wehmütig hinzu.

„Du musst schreiben und zeichnen und sie festhalten, dann bleiben deine Träume bei dir und werden deine Begleiter.“

„Und warum ist es hier in deinem Traumland so blau?“, wollte ich wissen. „Das Ist der Zauber der Tinte. Sie hält meine Träume fest und verschließt sie in meinem blauen Buch. Blau. Ist meine Lieblingsfarbe, weißt du? Die Augen meiner Mutter waren Veilchenblau und in ihnen lag alle Liebe der ganzen Welt.“

Dann lachte Lisbeth erneut: „Komm mit, hast du schon einmal auf einer Himmelsschaukel gesessen?“ Und sie zog mich zu der Schaukel, auf der wir nun beide bequem Platz fanden. Wir begannen im Einklang unsere Beine und Körper zu bewegen und schaukelten erst sanft, dann immer schwungvoller und höher. Es war fast wie Fliegen. Wir schwebten in den Himmel hinein, der nun schon fast lila wirkte. Ich jauchzte und lachte, ich fühlte mich so frei wie nie zuvor und ehe ich es mich versah, ließ ich die Seile der Schaukel los und fiel. Ich sauste mit einer irren Geschwindigkeit Richtung Boden und ich schrie verzweifelt. Doch auch meine Urgroßmutter ließ sich fallen und schlug Saltos und Purzelbäume in der Luft. Ich schloss die Augen und wartete auf den dumpfen Aufprall, stattdessen fühlte ich plötzlich unter mir einen warmen Körper und zwei Arme die mich von hinten umschlangen. Vorsichtig blinzelte ich. Ich saß auf dem Rücken eines gigantischen Schmetterlings mit blau schimmernden Flügeln, hinter mir saß Lisbeth und hielt mich eng umfasst. „Keine Angst“, flüsterte sie mir ins Ohr. „Mein Morphofalter trägt uns sicher durch die blaue Stunde und nach Hause. Aber versprich mir, dass du bald wiederkommst.“ „Ja, flüsterte ich, „morgen und jeden anderen Tag.“ „Du findest mich im blauen Reich hinter der Dämmerung“, hörte ich sie noch flüstern und es klang wie Regentropfen. Ich schlug die Augen auf, Regen prasselte auf die Dachluke, erst langsam tröpfelnd dann immer lauter und heftiger. Ich nahm das Buch meiner Urgroßmutter Elisabeth mit hinunter in mein Zimmer und schaute es lange an. Ich würde niemandem davon erzählen. Es sollte mein Schatz und mein Geheimnis bleiben! Ich suchte auf meinem Schreibtisch und schließlich fand ich es, ganz hinten in der Schublade, ein kleines unscheinbares Heftchen. Ich nahm den Füller, mit dem ich nur selten schrieb, schob eine neue lila Tintenpatrone hinein und begann meinen ersten Satz zu schreiben…

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1 comentario


anna.carolina.stoecker
08 jun 2020

Mir gefällt Deine Geschichte sehr. Die Welt hinter dem Traumtagebuch ist eine sehr schöne Idee und Du hast die Farbe Blau geschickt mit eingebaut

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