Eine phantastische Reise – von Anna Stöcker
- Brigitte Leeser
- May 9, 2020
- 7 min read
Die ersten Sonnenstrahlen des Tages fielen durchs Fenster und kitzelten meine Nase. Ich schlug die Augen auf, strich meine Bettdecke glatt, stieg aus dem Bett und wollte ein paar Schritte zu meiner Zimmertür gehen, als mein Fuß plötzlich an irgendetwas stieß. Ich fragte mich, was es gewesen sein konnte, denn ich hatte erst gestern Abend gründlich aufgeräumt, also zog ich die Vorhänge auf und sah mich um. Auf dem Boden direkt vor meinem Bett erblickte ich ein kleines Paket, etwa von der Größe eines Schuhkartons. Als ich es aufhob, um es zu öffnen, bemerkte ich, dass das Päckchen kaum Gewicht hatte. War überhaupt etwas darin? Ich schüttelte es ein wenig und vernahm ein leises Rascheln. Neugierig riss ich das Packpapier auf und brachte ein seltsames, fast dursichtiges Bündel Stoff und einen Brief zum Vorschein. Zunächst nahm ich den Brief und begann zu lesen. Er war an mich gerichtet. Ich glaubte zu träumen, als ich las, dass es sich bei dem seltsamen Stoffstück angeblich um einen Mantel handelte, der mir nicht nur die Fähigkeit geben sollte, mich unsichtbar zu machen, sondern auch, dass ich mit seiner Hilfe an jeden Ort, in jede Zeit und sogar in andere Dimensionen reisen könnte. Ich müsse mir nur wünschen, an diesem Ort zu sein und der Mantel werde mich in Sekundenschnelle dort hinbringen. Für einen Tag und eine Nacht werde mir der Mantel magische Fähigkeiten verleihen, doch ich solle bedenken, dass ich die Macht des Mantels nicht missbrauchen dürfte und, dass mich alle Menschen, die mich wirklich liebten, und gutmütige Tiere sehen konnten, aber für alle anderen Lebewesen wäre ich unsichtbar.
Ein Gruß oder Absender oder etwas Ähnliches war nicht im Brief vorzufinden. Ich konnte es kaum erwarten, den geheimnisvollen Mantel auszuprobieren. Es war Sonntag, also musste ich nicht zur Schule und hatte den ganzen Tag Zeit. Schnell zog ich mich an, faltete den Mantel auseinander und streifte ihn über. Ich verspürte ein leichtes Kribbeln, aber sonst passierte nichts. War ich jetzt unsichtbar? Mir fiel ein, dass ich mich nun auch an andere Orte wünschen konnte, also versuchte ich mir einen Ort vorzustellen, an den ich jetzt reisen konnte. Das Problem war, dass ich mir nur Orte vorstellen konnte, die ich kannte, bis plötzlich ein Bild in meinem Kopf auftauchte. Nein, es war kein Bild, eher ein Wort, das niemand aussprechen kann, ein ferner Klang oder verschwommener Nebel. Kurz: Etwas vollkommen Unbekanntes. Es war ein völlig fremder Gedanke in meinem Kopf erschienen, doch aus irgendeinem Grund verspürte ich keine Angst. Mir kam dieses Unbekannte seltsam vertraut vor und ich wollte mich an genau diesen Ort, in diese Zeit oder auch in diese andere Dimension wünschen. Ich versuchte den Gedanken festzuhalten, damit er nicht verschwand, konzentrierte mich darauf und wünschte mit aller Kraft.
Zunächst geschah gar nichts. Dann wurde es kaum merklich dunkler, bis ich von Dunkelheit eingehüllt war. Der Boden unter meinen Füßen schien sich aufzulösen, kalter Wind strich über mein Gesicht und ich drehte mich ein paar Mal im Kreis. Nach wenigen Sekunden hatte ich wieder das Gefühl, festen Boden unter den Füßen zu haben, und langsam wurde es auch wieder heller. Ich sah mich um. Ich befand mich in den Bergen, um genau zu sein: in einem Tal in den Bergen. Ich hörte Vogelgezwitscher. An der Zeit oder zumindest an der Uhrzeit schien sich nichts geändert zu haben, denn auch hier ging gerade die Sonne auf. Vor mir lag ein großer See, dessen Ufer blühende Kirschbäume zierten. Als sich eine leichte Brise erhob, wirbelten einige weiße Blütenblätter durch die Luft. Ich war so bezaubert von dieser Schönheit, dass ich nicht bemerkte, wie sich jemand von hinten anschlich.
„Wie Schnee!“, sagte eine Stimme hinter mir. Ich fuhr herum. Eine weiße Katze saß hinter mir im taunassen Gras und leckte sich geziert das Pfötchen. „Du, du kannst sprechen?“, stotterte ich. Die Katze legte den Kopf schief und leckte sich über die Schnauze. „Natürlich kann ich sprechen. Nur kannst du mich eigentlich nicht verstehen. Wie kommt es, dass du mit mir sprechen kannst?“, miaute sie. Ich überlegte eine Weile, dann sagte ich: „Dieser Mantel hier verleiht mir magische Fähigkeiten. Anscheinend kann ich mit seiner Hilfe auch mit Tieren sprechen. Wie heißt du eigentlich, wenn ich fragen darf?“ „Mein Name ist Minka“, sagte die Katze, „Und wie heißt du?“ „Ella“, stellte ich mich vor. „Macht dich dieser Mantel zufällig auch für gemeine Katzen unsichtbar?“ fragte das Tier. „Nur freundliche Tiere und Menschen, die mich liebhaben, können mich sehen“, antwortete ich, „wieso fragst du?“ „Nun“, sagte die Katze, „ich habe dich gesehen, als du durch die Luft hierher geflogen bist. Du bist rasend schnell durch die Luft gewirbelt und ich dachte zuerst, du bist ein Vogel oder ein Hubschrauber oder so. Ich habe meinen Bruder gefragt, ob er dich auch sieht, aber er hat gesagt, ich sei doch ein dummes kleines Kätzchen und würde mir das nur einbilden“. „Dein Bruder scheint wirklich nicht so nett zu sein“, sagte ich. „Nein“, sagte Minka, „ich wünschte, ich könnte hier weg. Er ist immer so gemein zu mir. Und außerdem ist es langweilig hier“ „Hier willst du weg?“, fragte ich fassungslos und zeigte auf den See mit den blühenden Kirschbäumen, die schneebedeckten Bergkuppen und die rote Sonne, die immer höher stieg. „Ich will die Welt sehen!“, rief Minka.
Langsam ging mir auf, warum ich eben, als ich noch in meinem Zimmer gestanden hatte, plötzlich den Gedanken an diesen Ort im Kopf gehabt hatte. Die Wünsche dieser kleinen und durch und durch freundlichen Katze waren so groß, dass mich der Mantel zu ihr geführt hatte. „Ich glaube, ich kann dir helfen“ sagte ich und hob die kleine Minka auf meine Schulter. Ich hoffte, dass mir der Mantel auch die Fähigkeit gab, zu fliegen, denn dann konnte ich der Katze auf meiner Schulter in aller Ruhe die Welt von oben zeigen. Ich konzentrierte mich auf den Wind, der um mein Gesicht und um meine Arme strich und tatsächlich: Langsam hob ich ab. Es fühlte sich wunderbar an, so zu schweben. Ich hatte schon immer davon geträumt und jetzt passierte es wirklich! Immer schneller flog ich dem Himmel entgegen.
Die Luft war so weit oben frisch und klar. Minka quiekte vor Freude. „Schau nach unten!“, rief sie mir zu. Ich vergaß beinahe zu atmen, als ich diese vollkommene Landschaft sah. Bergketten erstreckten sich bis zum Horizont und der See, der eben noch so groß ausgesehen hatte, glich nun einer Pfütze. Ein paar Meter unter uns kreiste ein Bergadler, der immer wieder Schreie ausstieß und die Fichtenwälder am Boden strömten einen wunderbaren Harzduft aus. Minka kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, und als wir eine Weile geflogen waren, und die Landschaft immer flacher wurde, tauchte das Meer am Horizont auf. „Was ist das?“, fragte die Katze neugierig. „Ist das auch ein See?“ „Es ist das Meer“, antwortete ich, „es ist so ähnlich wie ein See, es ist nur viel größer und das Wasser darin schmeckt salzig“. Minka bewunderte die glitzernde Wasseroberfläche und als wir darüber hinweg flogen, musste ich mich weit herabsinken lassen, damit sie ihre raue Zunge ins Wasser strecken und das Salzwasser probieren konnte. „Bäh!“, rief sie, „Das Wasser in unserem See schmeckt viel besser!“ Wir lachten und der Vormittag verstrich schnell. Zu Mittag versuchte ich, uns etwas zum Essen zu zaubern. Wieder musste ich mich konzentrieren, doch am Ende hatte ich ein belegtes Brötchen und Minka einen Napf mit Trockenfutter. Auch zum Essen landeten wir nicht, denn ich brauchte zum Fliegen kaum Konzentration und es machte uns beiden viel Spaß.
Am Nachmittag hatten wir das andere Ufer des Meeres erreicht und eine trockene Landschaft erwartete uns. Heißer Wind wehte über die Wüste und Minka behauptete, in der Ferne ein Feuer zu riechen. Wir beobachteten eine Karawane und ein einziges Kamel schaute zu uns herauf und blökte verängstigt. Der Zaubermantel kühlte meine Haut und so ließ sich die Hitze aushalten. Wir flogen einen großen Bogen und waren bald wieder über dem Meer. Minka entdeckte einen Delfin, der uns sehen konnte und eine Weile unter uns schwamm. Gegen Abend erreichten wir eine kleine Hafenstadt. Trotz der späten Stunde herrschte noch geschäftiges Treiben. Vermischte Gerüche von reifen Früchten, frischem Fisch und Staub drangen zu uns hinauf. Sehnsüchtig starrte Minka auf die Stände voll glitzernder Fische. Grinsend schnippte ich mit den Fingern und -hopp! klemmte ihr ein kleiner Fisch zwischen den Zähnen. Dankbar grinste sie zurück und begann zu kauen.
Alle Städte, an denen wir nun vorüberflogen, waren hell erleuchtet. Wie Häufchen glitzernder Diamanten lagen sie in der Tiefe und funkelten um die Wette. Als wir über einer Ortschaft wieder etwas tiefer flogen, entdeckten wir ein Hotel, in dem ein großes Fest stattfand. Es war gerade Mitternacht und wir hörten eine Stimme, die rief: „Lasst das Feuerwerk beginnen!“ Schnell ließ ich mich tiefer sinken und landete schließlich auf dem Dach des Hotels. Es war das schönste Feuerwerk, das ich je gesehen hatte. Wie gebannt schauten Minka und ich auf die Kunstwerke aus Licht, die im Himmel Spiralen drehten oder empor schossen um in tausend kleine Lichter zu zerspringen. „Ella“, sagte Minka. „Ja?“, fragte ich. „Ich wünschte, wir könnten immer zusammen sein. Ich wünschte wir könnten immer solche Abenteuer erleben!“, beendete die Katze ihren Satz. „Ja“, sagte ich, „Ja, das wünschte ich auch“. Weit nach Mitternacht erhob ich mich wieder in die Luft. Ich war inzwischen müde und wir flogen etwas langsamer als zuvor. Nach ein oder zwei Stunden sah ich auf meine Armbanduhr und stellte erschrocken fest, dass es schon fünf Uhr morgens war. „Minka, ich glaube, hier endet unsere gemeinsame Reise“, sagte ich traurig, „Die Nacht ist vorbei“. Ich versuchte, Minka per Gedankenflug nach Hause zu bringen, doch ich dachte vor Müdigkeit vor allem an mein eigenes Bett. Nach einigen Versuchen war Minka endlich verschwunden. Ich war mir sicher, dass sie nun wohlbehalten in ihrem Tal war und wünschte mich selbst endlich auch nach Hause. Wieder kribbelte es am ganzen Körper, ich drehte mich im Kreis und kalter Wind strich über mein Gesicht.
Ich landete weich. Das Licht der Straßenlaternen vor dem Fenster erleuchtete mein Zimmer so hell, dass ich erkennen konnte, dass ich auf meinem Bett saß. Der Mantel war verschwunden, dafür lag etwas anderes auf dem Bett. Es waren, um genau zu sein, zwei Dinge. Um noch genauer zu sein, war das eine Ding ein Brief und das andere Ding gar kein Ding, sondern eine kleine weiße Katze. Sie schlief tief und fest. „Minka!“, rief ich. Mir fiel ein, dass Minka nun nicht mehr mit mir sprechen konnte und mein Herz wurde schwer. Die Ohren der Katze zuckten. Sie öffnete zuerst ein Auge, dann das zweite. „Ella!“, rief sie. „Warum bist du hier?“, fragte ich. „Warum kann ich dich verstehen?“ „Lies den Brief!“, drängte Minka; „Darin stehen die Antworten auf deine Fragen!“ Also nahm ich den Brief und begann zu lesen. Es war die gleiche Handschrift wie auch im ersten Brief. Ich konnte kaum glauben, was darinstand: Da ich Minka ihren Wunsch erfüllt hatte, sollte ich mit ewiger Freundschaft zu ihr belohnt werden. Sie würde bei mir wohnen dürfen und ich würde sie, als einziges Tier auf der Welt, immer verstehen können, weil die Freundschaft und die Liebe zwischen uns beiden stärker war, als es ein Unterschied zwischen Mensch und Tier je sein könnte.
Mir gefällt deine Geschichte sehr, am tollsten finde ich die Idee, das Ella wegen demWunsch der Katze und nicht wegen ihrem eigenen Wunsch an den Ort gereist ist