Eine neue Heimat – von Hanna Hayee
- Brigitte Leeser
- May 9, 2020
- 8 min read
Geblendet von sanftem Sonnenlicht öffne ich langsam die Augen und blinzele mir den Schlaf aus den Augen. Ich strecke mich, setze mich auf und gähne erst einmal. Immer noch ein wenig verschlafen kneife ich die Augen wieder zusammen, weil ich so geblendet bin. Nachdem ich mich an die Helligkeit gewöhnt habe, schlage ich die Decke zurück und stehe auf. Ich bin gerade auf dem Weg zur Kommode, um einen Schluck Wasser aus meinem Becher zu nehmen, als ich etwas an meinen Füßen spüre und fast stolpere. Verwirrt schaue ich nach unten, denn normalerweise bin ich „die Ordnung in Person“ und lasse nichts auf dem Boden liegen. Tatsächlich dort liegt etwas, ein kleines Päckchen. Stirnrunzelnd hebe ich es auf und halte inne. Es ist federleicht. Zur Probe schüttele ich es einmal und ein kaum hörbares Rascheln ertönt. Neugierig öffnen ich öffne das Paket und sehe einen wunderschönen bordeauxroten Mantel mit schlichten goldenen Verzierungen. Andächtig nehme ich ihn aus dem Paket und streiche über das weiche, hauchdünne Material. Ich schaue noch einmal in das Päckchen und diesmal fällt mir ein Briefumschlag ins Auge. Es steht kein Absender drauf, auf der Rückseite ist nur ein edles Siegel im selben Bordeauxrot wie der Mantel. Vorsichtig schlitze ich den Umschlag auf. Während ich den Brief lese werden meine Augen immer größer. Anscheinend hat dieser Mantel magische Fähigkeiten und er macht mich unsichtbar! Nur die wenigen Menschen, die mich wirklich lieben, und freundliche Tiere können mich sehen. Dazu kommt, dass der Mantel mich an jeden beliebigen Ort bringen kann, er kann mich sogar in verschiedene Zeiten versetzen! Außerdem verleiht er mir magische Fähigkeiten. Ungläubig lasse ich den Brief sinken, doch dann breitet sich langsam auf meinem Gesicht ein Lächeln aus.
Mein Abenteuer kann beginnen!
Immer noch lächelnd ziehe ich den Mantel ehrfürchtig an. Er strahlt etwas Magisches aus. Ich überlege, wo ich gerne hinreisen würde. Eine Weltreise wäre interessant, aber viel zu langweilig. Lieber würde ich nur in ein bestimmtes Land reisen. Mir kommt Russland in den Kopf, denn die Eiswüsten im Norden Russlands hatten mich schon immer fasziniert, genauso wie die Tiere, die dort leben. Bevor ich noch länger über meine Entscheidung nachdenken kann, schiebe ich den Brief entschlossen in eine der beiden Manteltaschen, schließe die Augen und wünsche mich mit aller Gedankenkraft nach Nordrussland. Nur wenige Sekunden später spüre ich einen leichten Wind um mich herum und öffne die Augen wieder. Staunend sehe ich mich um und erblicke eine wunderschöne Landschaft. Ich bin umgeben von hohen, schneebedeckten Bergen und spiegelglatten zugefrorenen Seen. Vorsichtig mache ich ein paar Schritte nach vorne und in mir breitet sich ein Glücksgefühl aus, als ich das Knirschen des Schnees unter meinen Füßen höre. Seltsamerweise ist mir nicht kalt, obwohl die Temperaturen hier weit unter Null liegen müssen, doch anscheinend überträgt der Mantel Wärme auf mich. Ich kneife die Augen zusammen, um besser etwas in der Ferne erkennen zu können. Von weitem sieht es aus wie ein großer brauner Fleck, doch je näher ich komme, desto mehr nimmt er Gestalt an. Es handelt sich um mehrere umgefallene Baumstämme, die quer auf dem Schnee liegen und eine einladende Sitzgelegenheit bieten. Gedankenverloren setze ich mich auf einen der Stämme und strecke meine Beine aus.
Plötzlich spüre ich etwas Weiches, Flauschiges an meinem Knie. Verwundert hebe ich den Kopf und erkenne einen kleinen Schneefuchs, der sich an mein Bein kuschelt und die Augen geschlossen hat. Ob ich ihn streicheln kann oder ob das zu gefährlich ist? Da höre ich eine Stimme: „Bitte erschrick jetzt nicht, aber…“Schlagartig setze ich mich auf und schaue verwundert und misstrauisch zugleich den Fuchs an. Er sieht mich mit seinen dunkelbraunen Augen liebevoll und herzerwärmend an. „Du kannst sprechen? Oder ich kann dich hören?“, frage ich. Ich komme mir ziemlich komisch vor, weil ich gerade mit einem Tier rede. „Sprechen würde ich es nicht nennen, aber ja du kannst mich hören. Es ist sozusagen eine Art Gedankenübertragung. Du musst übrigens auch nicht sprechen, ich kann dich auch verstehen, wenn du nur denkst.“. Ich atme tief ein und schaue mich um. Ob es wohl auch bei anderen Tieren so ist? Stumm richte ich meine Frage an den Schneefuchs und höre ihn sogleich antworten: „Ja, hier kannst du dich mit uns allen verständigen.“ Ich wende mich erneut an den Fuchs und frage ihn, wie er überhaupt heißt oder ob er einen Namen hat. „Wir haben alle Namen, ich bin Lorelai, die Füchsin. Wenn du möchtest, kann ich dich auch mit den anderen Tieren hier vertraut machen.“
Lorelai springt freudig auf der Stelle und wedelt mit dem Schwanz. Dann läuft sie so schnell in eine bestimmte Richtung, dass ich sie nur noch mit Schwierigkeiten erkenne. Ich versuche ihr mit Gesten zu vermitteln, dass ich nicht so schnell laufen kann, aber ich höre sie nur lachen. „Probiere es erst einmal aus!“ Zögerlich fange ich an zu rennen und bewege mich auf einmal so schnell wie der Blitz. In der einen Sekunde war ich noch bei den Baumstämmen und in der anderen stehe ich schon neben Lorelai. Erstaunt drehe ich mich um und sehe die Entfernung, die ich in kürzester Zeit zurückgelegt habe. „Vielleicht hast du es noch nicht gemerkt, doch der Mantel verleiht dir übernatürliche Fähigkeiten. Du bist zum Beispiel auch übernatürlich stark, aber zu deinen Fähigkeiten gehört auch diese. Es ist im Prinzip wie teleportieren, nur noch ein wenig schneller. Jetzt gehen wir trotzdem normal weiter, es ist nicht mehr weit.“ Immer noch begeistert folge ich Lorelai einen kleinen Berg hinauf. Um mich herum sehe ich Sträucher in allen erdenklichen Grüntönen. Ich atme die eisige Luft ein und spüre ein Prickeln auf meinem Körper. Lorelai führt mich immer höher, bis wir schließlich an der Spitze des Berges angekommen sind. Mir bleibt der Mund offenstehen, so fasziniert bin ich von diesem Ausblick. Vor uns tummeln sich Schneeleoparden. Die Umgebung ist voller Eisblumen und ganz hinten erkenne ich sogar einige Bäume, in denen ich Schneeeulen sehen kann. Voller Freude schaut Lorelai mir in die Augen: „Willkommen in meiner Heimat!“
Wir gehen gemeinsam auf dem Hügel herum und Lorelai stellt mir ihre Freunde vor. Mir schwirrt der Kopf voller Namen und Gesichter, deshalb bin ich froh, als wir uns endlich auf einen Baumstamm setzen. „Gefällt es dir hier?“, will Lorelai von mir wissen. Strahlend nicke ich. Die verschiedenen Tierarten und ihr friedliches Leben hier oben zu beobachten macht mich glücklich. Alle sind so freundlich zu mir, auch wenn ich der einzige Mensch hier bin. Lorelai schmiegt sich an mich und ich streichele ihr unglaublich weiches warmes Fell. „Macht es dir etwas aus, wenn ich ein wenig schlafe?“ Ich schüttele nur den Kopf, nein, es stört mich kein bisschen. In der Zwischenzeit würde ich mich einfach auf eigene Faust umschauen. Ich stehe auf, werfe noch einen letzten Blick auf Lorelai, die unfassbar süß beim Schlafen aussieht, und schlendere dann davon.
Nun habe ich noch einmal die Gelegenheit mir das Zuhause von Lorelai und ihren Freunden aus der Nähe anzusehen. Ein Schneeleopard schnurrt mich freundlich an und ich schenke ihm ein kurzes Lächeln, bevor ich weitergehe. Ich staune über diese Landschaft und verwundere mich wie friedvoll die Tiere miteinander hier leben. In der Nähe eines Hügels erkenne ich etwas, das wie ein See aussieht und neugierig mache ich ein paar Schritte darauf zu. Wie kann das sein? Es ist hier doch so kalt, dass der See zugefroren sein müsste. Ich knie mich hin, strecke meine Hand in das türkis glitzernde Wasser, dass sich frisch und kühl auf meiner Hand anfühlt und ich schließe die Augen, um diesen Moment zu genießen. Um mich herum ist nur das Geräusch von Pfoten im Schnee, ein gelegentlicher Flügelschlag oder das Rauschen des Windes zu hören. „Ah, du hast unsere Quelle also schon entdeckt!“, höre ich plötzlich eine Stimme in meinen Gedanken. Ich öffne schlagartig die Augen und mir wird ein wenig schwindlig, aber ein sanftes Ziehen an meinem Mantel bringt mich wieder ins Gleichgewicht. „Tut mir leid, ich wollte nicht, dass du dich erschreckst.“ Vor mir liegt ein Polarwolf auf dem Boden. Er blickt mich so zerknirscht an, dass ich ihm nicht länger böse sein kann. „Ich bin Ember. Schön, dass du hier bist.“ Ember ist ein schöner Name! Die Wölfin habe ich gleich ins Herz geschlossen. Ich frage sie, was es mit der Quelle auf sich hat. „Naja, wir müssen ja auch Wasser trinken und diese Quelle gibt es schon seit Ewigkeiten. Irgendjemand muss sie mal entdeckt und mit einem Zauber belegt haben, da sie nie zufriert und immer frisches, sauberes Wasser für uns hat.“ Fasziniert fasse ich noch einmal ins Wasser und auch diesmal breitet sich ein angenehmes Prickeln auf meiner Hand aus. „Ich lasse dich mal wieder in Ruhe, aber melde dich einfach, wenn du irgendetwas brauchst, okay?“ Ich nicke dankend und Ember läuft davon. Ich lasse meinen Blick noch einmal schweifen und halte auf einmal inne. Bildete ich es mir nur ein oder war dort hinten ein schwarzer Punkt zu sehen? Er sieht aus wie eine kleine Hütte, doch im Gegensatz zu allem anderen was ich bisher gesehen hatte, wirkt sie nicht einladend. Ich drehe mich zu den Tieren um und will sie fragen, aber die meisten haben sich schon hingelegt. Kein Wunder, denn langsam geht die Sonne unter und der Himmel färbt sich in den schönsten Rosa und Violett Tönen. Nachdenklich wende ich mich wieder dem Punkt zu und stehe entschlossen auf. Ich will herausfinden, was es mit der Hütte auf sich hat!
Dank meiner magischen Fähigkeit bin ich in Sekundenschnelle bei dem schwarzen Punkt. Ich triumphiere innerlich, denn ich hatte mich nicht getäuscht, es ist wirklich eine Hütte. Leise umrunde ich sie und schaue mich suchend nach einem Eingang um. Endlich finde ich eine Tür und versuche, mit aller Kraft sie aufzuziehen. Sie gibt knarzend nach. Als ich sie betrete, ziehe ich vor Schreck scharf die Luft ein. Vor mir sind alle Arten von Waffen ausgebreitet! Intuitiv will ich zurückweichen, doch ich straffe die Schultern und atme tief ein. Ich bücke mich, um die Waffen näher betrachten zu können und zucke erschrocken zusammen. An einem Gewehr hängt ein Stück weißes Fell! Das kann nur bedeuten, dass der Besitzer der Waffen es auf die Tiere abgesehen hat. In mir steigt Wut auf und ich überlege krampfhaft, wie ich helfen könnte. Ja! Lorelai meinte vorhin, ich wäre übernatürlich stark. Das müsste doch eigentlich auch bedeuten, dass ich die Waffen zerstören könnte oder? Angewidert nehme ich eine in die Hand und schleudere sie mit aller Wucht gegen eine Wand der Hütte. Sie zerbricht in tausend kleine Einzelteile. Es klappt! So schnell wie möglich wiederhole ich den Vorgang mit den anderen Waffen, bis keine mehr übrig ist. Ich stehe auf und blicke mich noch einmal ganz genau in der Hütte um, um Gewissheit zu haben, dass wirklich keine Waffen mehr übrig sind. Als ich sicher bin, nichts übersehen zu haben, trete ich aus der Hütte und schließe die Tür hinter mir.
Wieder setze ich meine teleportierende Fähigkeit ein und befinde mich blitzschnell wieder bei Lorelai und den anderen Tieren. Sie schaut mich überrascht an. „Ist alles in Ordnung?“ Ich berichte von meiner Entdeckung und von dem was ich getan habe, fassungslos, aber zugleich auch unglaublich überwältigt vor Glück. Lorelai legt den Kopf in den Nacken. „Ich glaube du wirst gleich automatisch zurück nach Hause gebracht, es ist nämlich fast Mitternacht.“ Ich nicke, hebe sie hoch und drücke sie ganz fest an mich. Lächelnd bedanke ich mich bei ihr für all die Erlebnisse und setzte sie wieder auf dem Boden ab. Im nächsten Moment wird meine Umgebung unscharf und ich bin wieder in meinem Zimmer. Den Mantel habe ich immer noch an und auch den Brief kann ich noch in der Manteltasche fühlen. Ich lege den Mantel ab, falte ihn und lege den Brief daneben. Dann steige ich in mein Bett, kuschele mich in die Decke und höre Lorelais Worte wie ein Echo immer wieder in meinem Ohr. „Das, was du erlebt hast, war kein Zufall, es war eine Prüfung. Wir wollten testen, ob du in der Lage bist dich und uns zu verteidigen und du hast es geschafft. Ab heute bist du niemand Gewöhnliches mehr, du bist jetzt eine von uns. Du bist eine Beschützerin unserer Heimat und du kannst jederzeit zurückkehren. Willkommen zu Hause.“ Mit diesen Worten und dem Gefühl dazuzugehören schlafe ich ein, voller Vorfreude auf das, was vor mir liegt.
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