Die Kette – von Annike Schlüter
- Brigitte Leeser
- May 20, 2020
- 2 min read
Es ist der zweite Juni 1901 und ich bin mit meinen beiden Schwestern Janice und Vivienne auf Coco verabredet, der Yacht meines Vaters. Wir fahren gerade unsere Lieblingsrunde über den See, der direkt vor unserem Haus liegt. Manchmal baden wir hier auch, dann springen wir von der Anlegerbrücke ins Wasser. Wir fahren hier jeden Samstagabend mit der Yacht und haben normalerweise auch sehr viel Spaß, aber heute ist es anders. Janice hat mich eben beschuldigt, ich hätte ihre Perlenkette geklaut. Es stimmt zwar, dass ich sie schön gefunden habe, aber ich würde doch nie meine Schwestern beklauen! Natürlich ist Vivienne auf ihrer Seite, denn sie ist die jüngste von allen und verehrt Janice, weil sie die älteste von uns ist. Als die beiden nun von der Reling auf den See herunterschauen, drehe ich mich um, denn ich will nicht, dass sie mich weinen sehen. Es nimmt mich sehr mit, dass meine Schwestern mir so etwas zutrauen. Ich bin so kraftlos, dass ich meinen Hut fallen lasse. Aber ich hebe ihn sofort wieder auf. Ich schaue auf die andere Seite des Sees. Dort ist der Wald. Wir haben Glück, dass wir die einzigen auf dem See sind, denn sonst würde man die Geräusche der anderen Boote hören. Jetzt aber höre ich nur das Wasser unter uns und die Vögel, die zwitschern. Ich möchte nicht mehr mit Janice und Vivienne streiten. Also wische ich mir schnell meine Tränen weg und frage sie, ob wir nicht die Kette suchen wollen, damit die beiden sehen, dass ich sie nicht geklaut habe und wir nicht mehr streiten müssen. Zuerst ist Janice nicht sehr begeistert, denn wenn wir sie finden würden, würde es ihr wahrscheinlich sehr peinlich sein. Sie ist sehr stolz. Schließlich stimmt sie aber doch zu und wir gehen unter Deck in Janices Zimmer. Dort suchen wir ganze zwanzig Minuten lang, bis ich die Perlenkette schließlich zwischen der Wand und dem Spiegel über dem Schminktisch finde. Ich bin so erleichtert, dass ich sie gefunden habe. Ich hatte Angst, dass sie irgendwo anders auf dem Schiff sein würde und wir sie nicht wiederfinden würden. Erleichtert zeige ich sie den beiden und auch sie sehen erleichtert aus. Wahrscheinlich haben sie gehofft, dass ich sie nicht gestohlen habe. Wir mögen nämlich alle keinen Streit. Janice entschuldigt sich bei mir und wir umarmen uns ganz fest. Ich hoffe, dass wir nie wieder streiten werden.
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