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Writer's pictureBrigitte Leeser

Die Farbe des Himmels – von Anna Stöcker

Das war der Moment der Wahrheit. Ophelia legte die großen selbstgebastelten Schwingen aus Pappresten und den Federn aus alten Kopfkissen an, sprang in die Luft und versuchte, mit den überdimensionierten Flügeln zu schlagen. Für einen Augenblick dachte sie, dass sie sie wirklich tragen würden, doch schon nach dem Bruchteil einer Sekunde fiel sie wieder in Richtung Boden. Zum Glück war das Gras weich und sie landete unverletzt. Ihre Flügel hingegen zerknickten und einige Federn lösten sich. „Mist!“, fluchte Ophelia. Sie hatte so sehr gehofft, dass es diesmal funktionieren würde. Schon immer träumte sie vom Fliegen. Zwar war sie schon einmal mit dem Flugzeug geflogen, jedoch war sie davon mehr als enttäuscht gewesen. Es war eng gewesen, sie hatte nicht die frische Luft im Himmel atmen können und überhaupt war ihr furchtbar schlecht geworden.

Andächtig schaute sie in den Himmel. Eine Schar Gänse zog über sie hinweg. Wie leicht es diesen Tieren zu fallen schien, ihre Flügel richtig einzusetzen. Traurig vergrub Ophelia ihr Gesicht im Gras. Warum konnte sie sich nicht einfach damit abfinden, dass sie nicht fliegen konnte? Als sie wieder hinaufschauen wollte, stieß sie mit der Nasenspitze an ein kleines Büschel Vergissmeinnicht. Sie begutachtete es hingerissen. Wie schön es war! Seine winzig kleinen Blütenblätter waren von einem so klaren Himmelblau, dass Ophelia unwillkürlich wieder nach oben sah. Die Gänse waren inzwischen vorüber geflogen, doch dieses Gefühl, das sie immer bekam, wenn sie in den Himmel schaute, war noch da. Es war Sehnsucht. Sie sah wieder auf das Vergissmeinnicht hinunter. Selbst dieses Pflänzchen war dem Himmel näher als sie. Immerhin durfte es sich in seiner Farbe kleiden. „Unsinn!“, murmelte sie, „Eine Blume kann auch nicht besser fliegen als ich!“ Sie riss vorsichtig ein Stängelchen ab und steckte es sich in die Haare. Wie aus dem Nichts spürte sie ein Kribbeln auf der Kopfhaut. Es verbreitete sich über ihren ganzen Körper bis in die Zehenspitzen. Erstaunt sah sie an sich herunter. Ein schwaches bläuliches Leuchten ging von ihrer Haut aus. Himmelblau! Plötzlich fühlte sie sich ganz leicht. Träumte sie? Nein, das konnte nicht sein, es fühlte sich so echt an! Was hatte das zu bedeuten? Während sie noch nachdachte, hörte sie eine Stimme: „Ophelia!“, flüsterte sie. Ophelia drehte sich um. Da war niemand. Eine leise Angst beschlich sie. Hatte sie sich die Stimme nur eingebildet? „Ophelia!“, sagte die Stimme erneut, diesmal mit Nachdruck, „Du bist ein Himmelskind! Dein größter Wunsch war es schon immer, fliegen zu können. Du wusstest schon immer, dass du eigentlich nicht auf den Boden gehörst. Du kannst fliegen. Menschen wie du sind sehr selten. Aber ihr seid in großer Gefahr!“ Ophelia war sich nun sicher, dass sie sich die Stimme nicht nur einbildete. Und doch schien sie aus ihrem Kopf zu kommen. Was sie aber am meisten verunsicherte: Die Stimme hatte recht. Sie hatte wirklich schon immer das Gefühl gehabt, anders zu sein. Sie wollte wirklich schon immer fliegen können. Aber andere Menschen hatten doch bestimmt ähnliche Wünsche. Als hätte sie ihre Gedanken belauscht, antwortete die Stimme: „Normale Menschen wünschen sich das zwar auch manchmal, aber der Wunsch von Himmelskindern ist viel stärker.“

Verblüfft stand Ophelia im Gras. Das Kribbeln auf ihrer Haut hatte nachgelassen, das himmelblaue Leuchten hingegen war noch heller geworden. Sie war ein Himmelskind. Sie konnte fliegen! Es gab andere, die das gleiche Gefühl verspürten wie sie, und sie alle waren in Gefahr!

Ophelia überlegte nicht lange. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und konzentrierte sich nur aufs Fliegen. Es fiel ihr erstaunlich leicht! Und nachdem sie mühelos abgehoben war, genoss sie den warmen Aufwind und schoss in den Himmel. Genauso hatte sie sich das Fliegen vorgestellt. Der Garten, in dem sie eben noch gestanden hatte, wurde immer kleiner. Die Luft wurde kälter und dünner, doch Ophelia hatte keinerlei Atemprobleme. Sie war wie für den Himmel geschaffen! Fröhlich sauste sie durch ein paar Wolken, flog auf und ab, so schnell wie sie konnte und blieb schließlich durchnässt und außer Atem in der Luft stehen. Dann fiel ihr wieder die Gefahr ein, von der die seltsame Stimme gesprochen hatte. Sie musste die anderen Himmelskinder finden! Sie musste wissen, was es für eine Gefahr gab! So schnell sie konnte flog sie los, immer auf der Suche nach anderen Menschen. Als sie gerade hinunterschaute, stieß ihr Kopf plötzlich an etwas Hartes. Erschrocken sah sie sich um. Vor ihr schwebten ein blondes Mädchen, das sich den schmerzenden Schädel rieb, und ein Junge mit dunklen Locken. „Aua!“, rief das Mädchen, „Pass doch auf!“ „Äh, Entschuldigung“, stotterte Ophelia, „ich wusste nicht, dass ich mit Gegenverkehr rechnen muss.“ „Kein Problem“, sagte der Junge, „wer bist du?“ „Ich heiße Ophelia“, sagte Ophelia, „laut der Stimme, die ich eben gerade gehört habe bin ich ein Himmelskind. Ihr anscheinend auch, oder?“ „Richtig“, sagte das Mädchen nickend. Es hatte sich wieder beruhigt und lächelte freundlich, „Mein Name ist Elena. Es ist schon einige Zeit her, dass ich hierhergekommen bin. Und das hier ist Jakob“, sie deutete auf den Lockenkopf, „Seit er auch hier lebt, sind wir zwei befreundet.“ „Ihr lebt hier oben?“, fragte Ophelia erstaunt. „Natürlich“, antwortete Jakob, „Wir Himmelskinder stammen alle aus Verhältnissen, in denen wir uns niemals wohlgefühlt haben. Auch deshalb dürfen wir im Reich der Lüfte leben.“ Es stimmte. Ophelia hatte vier ältere und zwei jüngere Geschwister. Da ihr Vater die Familie verlassen hatte, als sie fünf geworden war, musste ihre Mutter viel arbeiten und die Hausarbeit blieb meistens an ihr hängen. Ein Leben über den Wolken hätte sie sich nicht in ihren kühnsten Träumen ausdenken können, es würde all ihre Probleme lösen. „Seht ihr eure Familien dann nie wieder?“ fragte Ophelia. Trotz allem liebte sie ihre Mutter und ihre Geschwister. Sie für immer zu verlassen, würde sie nicht übers Herz bringen. „Wir besuchen sie so oft wir wollen“, sagte Elena. „Wohnen und zur Schule gehen tun wir aber hier oben.“ „Hier gibt es eine Schule?“, vor lauter Fragen wurde Ophelia schon ganz schwindelig. „Wie viele Himmelskinder gibt es denn?“ „Du bist jetzt das siebte“, sagte Jakob, „aber wir werden immer mehr.“ „Kommt mit!“, rief Elena, „wir werden dir unsere Schule zeigen, Ophelia.“


Es war mehr als eine Schule. Es war ein gläserner Palast. Majestätisch lag das Gebäude zwischen sanften Wolkenhügeln. Seine Wände spiegelten das gleißende Sonnenlicht wieder und so strahlte das Wolkenschloss hell wie ein Kristall. Als die drei Kinder durch die weite Eingangshalle zuflogen, sah Ophelia auf einem kleinen weißen Sessel ein weiteres Himmelskind sitzen. „Das ist Frida“, flüsterte Jakob, „sie ist erst neun, aber unser Schulleiter wollte sie schon früher herholen, weil es ihr zu Hause wirklich schlecht ging.“ „Euer Schulleiter?“, fragte Ophelia, ebenfalls flüsternd, „Es gibt also auch einen Schulleiter?“ „Ja, er hatte die Idee für diese Schule“ erklärte Elena, „ihm war es wichtig, dass Menschen wie wir unsere Fähigkeiten entdecken und ausleben können.“ „Er erwartet dich sicher schon“, fügte Jakob hinzu, „er weiß aus irgendeinem Grund immer vorher, wer ins Wolkenschloss kommen wird.“ „Ophelia!“, rief plötzlich jemand hinter ihnen. Erschrocken fuhren die drei herum. Ein kleiner runzeliger Mann schwebte hinter ihnen. „Da bist du ja endlich! Ich sehe, du hast schon Freunde gefunden. Ich bin Claudius Taubenfeder, der Schulleiter unserer Schule für Himmelskinder. Kommt doch bitte mit in mein Büro, ihr drei. Ich will Ophelia eine Schuleinweisung geben und sie hat sicher nichts dagegen, wenn ihr anderen mitkommt.“ Zügig flog er mit ihnen durch ein paar Korridore und ließ sie schließlich in einem kleinen Büro Platz nehmen. „Herzlich willkommen, liebe Ophelia! Ich sehe, du bist noch ein wenig verschreckt, aber ich denke das wird schon wieder. Es passiert ja auch nicht alle Tage, dass man in einer Schule für Flugbegabte aufgenommen wird, nicht?“, er lachte herzlich über seinen eigenen Scherz, dann fuhr er fort, „den Stundenplan und alles Weitere kannst du dir am Sonntagnachmittag bei Julia im Sekretariat abholen. Bis dahin kannst du die freie Zeit genießen und dir von Elena und Jakob das Gelände zeigen lassen. Aber nun der eigentliche Grund, warum ich dich sprechen wollte: Es kann kein Zufall sein, dass du ausgerechnet heute, am Tag der furchtbaren Entdeckung zu uns gekommen bist. Was hat die Stimme in deinem Ruf zu dir gesagt?“ In ihrem Ruf? Bestimmt meinte Claudius die seltsame Stimme, die ihr eröffnet hatte, dass sie ein Himmelskind war. „Nun“, begann sie, „die Stimme hat gesagt, dass ich ein Himmelskind bin. Sie hat gesagt, dass ich nicht allein bin, aber dass alle Himmelskinder in großer Gefahr sind. Was hat das zu bedeuten? Und was habe ich damit zu tun?“ „Ich muss nachdenken“, antwortete Claudius, „Lass dir von Elena und Jakob die Gefahr zeigen.“

Elena und Jakob führten sie aus dem Gebäude heraus und sie flogen einen weiten Bogen, bis sie etwa hundert Meter hinter dem Schloss zum Stehen kamen. Wortlos deutete Jakob in die Ferne. Es war ein schrecklicher Anblick. Der Himmel wurde schwarz. Eine dunkle Woge trieb das strahlende Blau immer weiter zurück. „Was ist das?“, fragte Ophelia ängstlich. „Claudius sagt, es passiert, weil es immer weniger natürliches Himmelblau gibt“, antwortete Elena, „vielleicht würde es schon reichen, wenn wir nur einen einzigen Gegenstand finden würden, der von Natur aus himmelblau ist. Aber wir finden keinen.“ „Wir suchen schon seit heute Morgen“, bekräftigte Jakob, „wir haben die ganze Welt umflogen, es gibt einfach nichts!“ Traurig schaute Ophelia nach unten. Gab es wirklich nichts, was so blau war wie der Himmel? Konnte das überhaupt sein?

Auf der anderen Seite des Glasschlosses ging langsam die Sonne unter. „Lasst uns morgen weitersuchen“, schlug Elena vor, „ich denke wir sollten zu Abend essen und schlafen gehen.“

Nach einem köstlichen Abendessen zog Ophelia in ihrem neuen Zimmer ein. Vor dem Panoramafenster stand ein breiter Schreibtisch und statt Betten gab es zwei Hängematten, die an der Decke befestigt waren. Sie teilte sich das Zimmer mit Elena, die sich sehr über eine Zimmergenossin freute. Ophelia setzte sich bedrückt auf ihre Hängematte. Eine Ankunft in der Schule für Himmelskinder hatte sie sich anders vorgestellt. Ihre Mutter würde sich Sorgen machen, wenn sie nicht nach Hause käme. Wie konnte sie ihr und ihren Geschwistern so etwas antun? Andererseits verlor der Himmel seine Farbe. Sie musste helfen, die vollkommende Schwärze zu vermeiden! „Kopf hoch!“, sagte Elena, „wir werden eine Lösung finden, ich verspreche es dir. Es gibt für alles eine Lösung!“ Ophelia nickte, obwohl sie sich nicht halb so sicher fühlte, wie ihre neue Freundin klang. Sie würden es schaffen! Mit diesem Gedanken schlief sie ein.

Am nächsten Morgen schien die Sonne durch das Glas, als sie aber nach draußen schaute, sah Ophelia auch die schwarze Woge immer näherkommen. Sie durften keine Zeit verlieren! Schnell zogen die Mädchen sich an und machten sich auf die Suche nach Jakob. Sie fanden ihn im Speisesaal, wo er gigantische Mengen von belegten Brötchen in sich hinein schaufelte. Elena drängte ihn zur Eile und so standen die Drei bald wieder in der Eingangshalle. „Viel Glück!“, rief Claudius ihnen zu, „Ich bin sicher, ihr schafft das!“

Sie nahmen sich unterschiedliche Strecken vor. Jakob wollte nach Asien fliegen und große Städte, weite Landschaften und Reisfelder nach dem natürlichen Himmelblau absuchen. Elena wollte nach Australien, wo sie sich blaues Gefieder von tropischen Vögeln erhoffte und Ophelia brach schließlich zu den südlichen Küsten Europas auf. Sie wussten, dass sie es zu dritt nicht schaffen würden, jeden Kontinent einzeln abzusuchen, also fokussierten sie sich zunächst nur auf diese drei.

Ophelia, die noch nicht viel Übung im Fliegen hatte, wurde schon nach ein paar Stunden müde. Außerdem wurde ihr schnell langweilig, doch sie biss die Zähne zusammen und flog weiter. In der Tiefe sah sie das Meer glitzern. Hatte es vielleicht die Farbe des Himmels? Nein, das Blau des Meeres war dunkler. Betrübt flog sie weiter, ließ sich tiefer sinken, sodass sie die bunten Fische im Wasser sehen konnte. Rot und gelb waren sie und Ophelia entdeckte sogar ein paar blaue, doch himmelblau waren sie nicht. Sie sah noch einen Kater mit blaugrauem Fell, einen Fischer mit strahlend blauen Augen, ein tiefblau gestrichenes Boot und ein paar dunkelblaue Muscheln, doch keines dieser Dinge hatte die Farbe des Himmels. Sie flog weiter zur Küste, suchte auf den Feldern und in den Läden, nirgends fand sie etwas. Erst als die Sonne schon am Horizont verschwand flog sie wieder höher und machte sich auf den Rückweg zum Schloss.

Es war schon dunkel als sie wieder in der Eingangshalle ankam. Elena und Jakob waren schon dort und blickten sie fragend an. Sie schüttelte traurig den Kopf. Auch Claudius wirkte etwas ratlos. Niemand hatte etwas Himmelblaues gefunden und langsam wurde die Zeit knapp. „Ein Tag wird bestimmt noch Zeit sein“, sagte der Schulleiter zuversichtlich.

Leider lag er falsch. Als sie am nächsten Morgen erwachten war nur noch ein dünner Streifen des Himmels blau, der Rest war so dunkel, dass nur die Sonne noch zeigte, dass es überhaupt Tag war. „Oh, Nein!“, rief Elena, „das kann doch nicht sein!“ Tränen glitzerten in ihren Augen, „Was können wir jetzt noch machen?“ Ophelia vergrub das Gesicht in den Händen. „Blau“, dachte sie, „Blau!Himmelblau!“ Und plötzlich fiel es ihr ein. „Vergissmeinnicht!“, rief sie. „Was?“, schluchzte Elena, „ich soll dich nicht vergessen?“ „Vergissmeinnicht ist himmelblau! Ich habe Vergissmeinnicht angeschaut, als die Stimme zu mir sprach! Das ist die Lösung!“, rief Ophelia. So schnell sie konnte flog sie aus dem Schloss, schoss hinab wie ein Raubvogel auf Jagd und landete bald in ihrem alten Garten. Trotz des schwarzen Himmels sah er so friedlich aus, dass Ophelia fast schon daran zweifelte, ob ihre Entscheidung, in Zukunft über den Wolken zu leben, richtig gewesen war. „Keine Zeit für Überlegungen!“, sagte sie sich, grub vorsichtig ein Büschel von dem himmelblauen Kraut aus, setzte es in einen kleinen Topf und hob dann wieder ab.

Je höher sie kam, desto blauer wurde der Himmel.

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