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Writer's pictureBrigitte Leeser

Der Verdacht – von Anna Stöcker

Es ging auf den Spätsommer zu und wie jeden Sonntag waren Mona und ihre Schwestern auf dem Rückweg von der Kirche auf ihrer Lieblingsbrücke stehen geblieben. Ein warmer Wind erhob sich und blies Gerüche von Fisch, frischem Brot, reifem Obst und Wein vom Markt herüber. Alles schien so friedlich, so gewöhnlich, ja, so wunderbar an diesem Mittag, doch die drei Schwestern blickten traurig hinab ins schwarze Wasser. „Sie war es“, flüsterte Elisa Katharina zu. Die beiden hatten sich ein wenig von ihrer kleinen Schwester entfernt, doch Mona hörte ihr Getuschel. Wütend drehte sich das blonde Mädchen weg. Sie war es nicht gewesen und sie hatte es ihnen auch hundertmal versichert, doch ihre Schwestern glaubten ihr nicht.

Ein wertvolles Schmuckstück ihrer Mutter war verschwunden. Es war ein Erbstück gewesen, eine Brosche mit einem wunderschönen blauen Edelstein, und, wie man munkelte, unbezahlbar. Mona hatte dieses Schmuckstück mehr bewundert als jede andere ihrer Schwestern, und so wurde sie bald verdächtigt, es gestohlen zu haben. Mona war sich sicher, dass einer der Bediensteten ihrer Eltern die Brosche entwendet hatte, doch sie hatte keine Beweise. Gedankenverloren nahm das Mädchen seinen Sonntagshut ab und lies ihn in der Hand auf und ab schaukeln. Er fiel zu Boden, als der Wind aufbrauste und eine stürmische Böe nach der anderen über das flache Land pfiff. Schnell hob Mona den Hut auf und blickte zum Horizont. Dunkle Wolken ballten sich über dem fernen Meer, und es wurde merklich kühler. „Es wird Regen geben“, murmelte sie und ging eilig über die Brücke und die Straße in Richtung des Hauses ihrer Eltern entlang. Elisa und Katharina folgten ihr. Es war ein großes und schönes Haus, das außerhalb der kleinen Stadt lag. Es war von einem kleinen Park umgeben und jede der drei Schwestern hatte ihr eigenes Gemach. Obwohl ihre Mutter sie hereinkommen sah, begrüßte sie Mona nicht. Auch sie war der festen Überzeugung, dass ihre jüngste Tochter eine Diebin war.

Mona vermutete, dass sich die Brosche noch im Haus befand, denn keiner der Bediensteten hatte seit dem Verschwinden des Schmuckstückes vor drei Tagen das Haus verlassen. Doch wer konnte es gewesen sein? Eines der drei Zimmermädchen? Oder vielleicht der Koch? Vielleicht war es der Küchenjunge gewesen. Er bekam schließlich den geringsten Lohn. Noch wahrscheinlicher war es, dass sich der geizige Gärtner die wertvolle Brosche genommen hatte. Er war noch nie mit seiner Bezahlung zufrieden gewesen und hatte vielleicht gedacht, es wäre nur gerecht.

Das Läuten einer Glocke riss sie aus ihren Überlegungen. Es gab Essen.

„Mona“, ergriff ihre Mutter das Wort. Sie saßen gemeinsam am Tisch, doch anders als sonst saß Mona nicht zwischen ihren Schwestern. Die beiden hatten sich geweigert, die angebliche Diebin in ihre Mitte zu nehmen und so saß Mona heute allein am anderen Ende des Tisches. „Bitte gib sie doch einfach zurück. Wir alle wären dir nicht länger böse“, fuhr ihre Mutter fort. Obwohl sie sich große Mühe gab, freundlich zu klingen, hörte man ihrer Stimme den Ärger an. „Ich habe sie nicht genommen!“, rief Mona, ebenfalls sichtlich verärgert. Diese Auseinandersetzung führten sie jetzt immerhin zum dritten Mal. „Du warst zu der Zeit alleine in meinem Schreibzimmer, zu der die Brosche verschwand“, versuchte es die Mutter erneut. Sie hatte Recht. Mona war jedoch nur in das Schreibzimmer ihrer Mutter gegangen, um dort nach einem Buch zu suchen. Tatsächlich hatte die Brosche ebenfalls dort gelegen, doch Mona hatte sie nicht einmal berührt. „Wenn du sie nicht bis morgen Abend zurückgegeben hast, müssen wir dich bestrafen“, mischte sich der Vater ein, „Du belügst und bestiehlst uns, das können wir nicht länger dulden.“

Nach dem Essen ging Mona betrübt hinaus in den Garten. Es hatte bereits aufgehört zu regnen und die bunten Blumenbeete hatten Mona schon immer getröstet, wenn sie traurig war. Langsam zogen auch die letzten grauen Wolken weiter und die Sonne kam wieder zum Vorschein. Ein Rotkehlchen landete vor ihr auf dem Boden und wusch sich in einer kleinen Pfütze. Ein winziges Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Sie liebte Vögel. Und da fiel es ihr ein. Sie hatte im Schreibzimmer ihrer Mutter ebenfalls einen Vogel gesehen. Er hatte vor dem Fenster gehockt und hineingeblickt. Immer mehr Erinnerungsfetzen kehrten zurück in Monas Kopf. Es war eine Elster gewesen, groß und prächtig mit einem wunderschönen blau-weißen Gefieder. Sie hatte auf den Schreibtisch gestarrt, dort wo die Brosche gelegen hatte! Elstern liebten glitzernde Dinge. Dieser Vogel musste das Schmuckstück gestohlen haben! Alles passte zusammen. Ihre Mutter ließ das Fenster im Sommer immer einen Spalt weit offen, damit es nicht allzu heiß wurde. Die Elster hatte also einfach durchs geöffnete Fenster fliegen und die Brosche stibitzen können. Ein einziges Problem gab es jedoch noch: Wie sollte Mona das Nest der Elster und damit die Brosche finden? Sie sah sich um. Keine Elster weit und breit. Als sie es nach einer Weile aufgeben wollte, nach dem frechen Vogel Ausschau zu halten, hörte sie plötzlich seinen Ruf. Erfreut sah sie das prächtige Tier auf einem hohen Baum ganz in der Nähe landen. Schnell lief sie los und blieb schließlich vor dem Baum stehen. Andächtig blickte Mona nach oben. Es würde nicht leicht werden, doch sie raffte ohne weiter zu überlegen ihr Kleid und begann zu klettern. Sie kam nur langsam voran. Anfangs konnte sie sich auch nur an wenigen Ästen festhalten, später in der Krone hatte sie besseren Halt. Höher und höher stieg sie und dachte nicht einmal an einen Blick nach unten, der vielleicht ihre Angst vor dem Abstürzen noch verstärkt hätte. Endlich erahnte sie über sich das Nest der Elster. Es war ein Geflecht aus Zweigen, ziemlich groß und ziemlich dicht. Mona stieg noch bis auf etwa die Höhe des Nestes und warf einen Blick hinein. Zusammen mit ein paar grünlich-braunen Eiern lagen auch eine verbogene Kuchengabel, ein kleines Silberkettchen und die Brosche darin. Die Brosche! Fast wäre Mona vor Freude in die Luft gesprungen, das Schmuckstück dort liegen zu sehen. Schnell nahm das Mädchen die Brosche aus dem Nest, steckte sie behutsam in die Schürzentasche und machte sich an den Abstieg.

Leise und so unauffällig wie möglich schlich sich Mona wieder ins Haus. Sie wollte die Brosche nicht einfach so zurückgeben, denn dann hätte es so ausgesehen, als würde sie ihren angeblichen Diebstahl zugeben. Also ging sie hinauf ins Schreibzimmer, um die Brosche dort auf einen Sessel zu legen. Zwar wäre es nicht die ganze Wahrheit, doch niemand würde zu Schaden kommen, wenn ihre Mutter einfach denken würde, sie selbst hätte die Brosche unachtsam auf dem Sessel liegen gelassen. Dann ging Mona in ihre Kammer und wartete. Sie wusste, dass ihre Mutter noch heute Abend ins Schreibzimmer gehen würde, denn sie liebte es, abends noch ein Weilchen zu lesen und meistens tat sie dies ungestört in ihrem Lieblingssessel im Schreibzimmer. Mona lauschte eine Weile. Endlich hörte sie ein leises „Oh!“ durch die Wand. Dann kam die Mutter in Monas Zimmer. „Es tut mir so leid!“, rief sie. „Wir hätten dir glauben sollen! Ich selbst habe die Brosche unachtsam auf meinem Sessel im Schreibzimmer liegen gelassen! Wie konnten wir alle nur so töricht sein! Ich möchte mich aufrichtig bei dir entschuldigen.“ Kurz war Mona sprachlos. Eine solche Überschwänglichkeit hatte sie nicht erwartet. Schließlich sagte sie: „Ich bin froh, dass sich dieses Missverständnis nun geklärt hat. Ich habe mir auch Sorgen um deine Brosche gemacht.“

Auch Monas Vater und ihre Schwestern waren sehr froh, dass die Brosche und damit der Frieden in die Familie zurückgekehrt waren. Mona durfte beim Essen wieder zwischen ihren Schwestern sitzen und die drei lachten wieder zusammen. Und sonntags nach dem Kirchgang standen sie wieder gemeinsam auf ihrer Lieblingsbrücke und bewunderten die tanzenden Sonnenstrahlen auf der Wasseroberfläche.



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