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Writer's pictureBrigitte Leeser

Der Neue – von Annike Schlüter

Montagmorgen und der erste Schultag nach den Herbstferien, weshalb ich viel früher aufstehen musste als in den letzten Tagen. Müde und noch im Schlafanzug saß ich vor meinem Müsli und hatte eigentlich gar keine Lust auf Schule. Aber ich freute mich, meine Freunde und vor allem meine beste Freundin Miriam, wiederzusehen. Meine Mutter scheuchte mich auf: „Du bist ja immer noch beim Frühstücken Amelie! Jetzt musst du dich aber beeilen, wenn du nicht zu spät zur Schule kommen willst.“ Ich murmelte nur ein verschlafenes „Bin schon fertig“ und ging nach oben ins Badezimmer.

Miriam stand schon an unserem Treffpunkt an der Ecke. „Hi, Amelie! Wie waren deine Ferien?“, begrüßte sie mich, „was hast du denn so gemacht? Und jetzt sag bloß nicht, du hast wieder mal nur gelernt!“ Sie meinte nämlich, ich würde zu viel lernen, nur, weil ich immer zwei Wochen vor den Arbeiten anfing zu lernen. „Nein, habe ich nicht“, erwiderte ich grinsend und rollte mit den Augen. „Stell dir vor, ich habe kein einziges Mal in ein Schulbuch geschaut.“ „Wow, ich bin echt stolz auf dich!“, meinte sie lachend. Wir redeten noch den restlichen Weg über die Ferien. Im Klassenraum waren schon fast alle da. Schnell setzten wir uns auf unsere Plätze, die zum Glück direkt hintereinander waren, da kam schon unser Lehrer rein. Doch meine Aufmerksamkeit war nicht auf Herrn Schmidt gerichtet, sondern auf die Person, die hinter ihm ging, ein Junge mit braunen Haaren und den wunderschönsten, blauesten Augen die ich je gesehen habe. Wer das nur war? Da stellte sich schon Herr Schmidt vorne hin: „Guten Morgen liebe Klasse. Erst einmal, schön, dass ihr wieder da seid. Ich hoffe, ihr hattet schöne Ferien. Wie einige von euch vielleicht schon mitbekommen haben, haben wir einen Neuzugang in unserer Klasse. Das ist Jayden!“, und dem Jungen zugewandt, „möchtest du dich vielleicht kurz vorstellen?“ „Ja, wie gesagt, ich bin Jayden. Ich bin mit meinem Vater erst letztens aus Berlin hierhergezogen“, erzählte der Junge. „Schön, dass du da bist Jayden. Dort hinten ist noch ein Platz frei, da kannst du dich hinsetzen.“ Herr Schmidt zeigte mit dem Finger auf einen Platz weiter hinten in der Klasse. Auf dem Weg zu seinem Platz schaute Jayden mich kurz an und ich lächelte, damit er sich willkommen in unserer Klasse fühlte. Er lächelte schüchtern zurück und setzte sich auf seinen Platz. Nach dem Unterricht auf dem Gang flüsterte mir Miriam ganz aufgeregt zu: „Oh mein Gott, ist der süß, findest du nicht? Und er hat ja mal die schönsten blauen Augen, die ich je gesehen habe“, schwärmte sie.  „Ja, er ist ganz ok. Scheint nett zu sein“, antwortete ich. Nach der letzten Stunde gingen wir noch kurz zu unseren Schließfächern, um unsere Bücher weg zu stellen und Jayden stand nur ein paar Meter weiter vor seinem Schließfach. „Wollen wir mal zu ihm gehen? Irgendjemand muss ihn ja begrüßen, wäre doch traurig, wenn er so alleine stehen bleibt“, schlug Miriam vor. Ich stimmte zögernd zu und wir gingen zu ihm hin. „Hey Jayden, ich bin Miriam und das ist meine beste Freundin Amelie. Wir wollten nur mal Hallo sagen“, sagte Miriam in zuckersüßem Ton, wickelte einen Finger um ihre blonden Locken und zwinkerte mit den Augen. Was machte sie denn nur? Ich starrte sie kurz an, dann trat ich ihr unauffällig gegen das Bein, damit sie aufhörte. Doch sie ließ sich nicht beirren. Ohje, war das peinlich. Sie vergötterte ihn ja schon fast! „Ähm, ja, hallo“, sagte Jayden leicht irritiert im weggehen, als Miriam ihm in den Weg trat: „Es muss bestimmt schwer sein, an eine neue Schule zu kommen ohne jemanden zu kennen. Wir können dir gerne alles zeigen, wenn du magst“, säuselte sie, immer noch ihre Locke einwickelnd. „Nein danke, ich werde mich hier schon zurechtfinden“, sagte er. „Außerdem muss ich jetzt eh los.“ Damit ging er schnell an uns vorbei zum Ausgang. „Was für ein Idiot! Der war ja überhaupt nicht nett! Er hätte sich ja wenigstens verabschieden können“, sagte ich, „aber was du gemacht hast, das war voll peinlich!“ „Wieso? Ich war doch nur freundlich!“, verteidigte Miriam sich. „Wohl ein bisschen zu freundlich“, murmelte ich. „Aber du hast Recht, er war wirklich nicht so nett“, sagte sie und wir stiegen auf unsere Fahrräder und fuhren los. An unserer „Treffecke“ mussten wir uns leider schon verabschieden, weil ich vorhatte, mit meinem Vater in den Baumarkt zu fahren. Er wollte eine neue Tür für die Gartenhütte bauen und brauchte dazu noch Holz und Farbe. Aber weil er wirklich einen schlimmen Geschmack hatte, was Farben anging, kam ich lieber mit. Im Baumarkt angekommen, holte mein Vater die Bretter, während ich schon zu der Farbabteilung ging. Wir brauchten auch noch einen Pinsel. Doch auf dem Weg zu den Farbeimern stieß ich mit jemandem zusammen und ließ den Pinsel fallen. Dieser Jemand war Jayden. Oh nein, ausgerechnet er!  Ich wollte gerade den Pinsel aufheben, als er dasselbe vorhatte und sich unsere Hände berührten. Schnell nahm ich den Pinsel und zog meine Hand weg. Verlegen schauten wir zur Seite. „Hey“, sagte er dann und schaute mich wieder mit seinen blauen Augen an.  „Hey“, sagte ich und zog meine Augenbraue hoch. „Was machst du hier?“ „Ich bin mit meinem Vater hier. Wir müssen noch ein paar Sachen kaufen“, erklärte er und wurde leicht rot. „Und was machst du hier?“ „Ich bin auch mit meinem Vater hier. Wir holen Bretter und Farbe für eine Tür, die mein Vater für unsere Gartenhütte bauen möchte“, erzählte ich. „Cool. Das klingt gut.“ sagte er. Sein Vater kam um die Ecke. „Tja, also dann, bis morgen“, verabschiedete er sich und kratzte sich verlegen am Nacken. Ich lächelte ihm noch zu, dann ging er. Hm, eigentlich war er gar nicht so schlimm. Er war wahrscheinlich nur schüchtern.

„Oh Mann, das ist ja nicht auszuhalten!“, flüsterte mir Miriam am nächsten Tag von hinten zu. „Alle Mädchen himmeln diesen Jayden ja richtig an. Sie starren ihn die ganze Zeit an!“ Sie verdrehte die Augen und ich musste kichern. „Was ist daran so komisch?“, fragte sie. „Na, du machst ja auch nichts anderes“, sagte ich schmunzelnd. „Mach ich gar nicht!“ Wir wurden von unserem Lehrer ermahnt. Doch ein paar Minuten später flüsterte sie wieder: „Oh mein Gott Amelie, er hat dich angeschaut. Schon zum zweiten Mal!“ Ich drehte mich unauffällig um und sah direkt in Jaydens blaue Augen. Schnell schauten wir beide weg. „Und woher weißt du das, wenn du ihn angeblich gar nicht angeschaut hast?“, fragte ich. „Das war Zufall“, sagte sie und ich musste wieder kichern. „Miriam und Amelie, ich muss euch jetzt schon zum zweiten Mal innerhalb von nicht mal zehn Minuten ermahnen. Wenn ihr jetzt bitte so freundlich wärt und dem Unterricht folgen würdet“, ermahnte uns Herr Kühn, also drehte ich mich schnell wieder nach vorne. Die Wochen vergingen, doch ich hatte keine weitere Gelegenheit gefunden mit Jayden zu sprechen. Heute nach der Schule ging ich ein paar Häuser weiter zu Frau Huber. Manchmal führte ich ihren Dackel Werner spazieren, weil Frau Huber schon etwas älter war und das nicht mehr so gut schaffte. Ich holte also Werner ab und ging mit ihm in den Park. Ich versuchte schon länger, ihm beizubringen, Stöckchen zu holen und langsam verstand er es. Gerade warf ich das Stöckchen, da sah ich Jayden auf mich zukommen. „Hey!“, begrüßte er mich, „ist das dein Hund?“ „Nein, das ist Werner, der Hund einer Nachbarin. Ich gehe manchmal mit ihm spazieren. Was machst du hier?“, antwortete ich und errötete zu meiner Verwunderung ganz leicht.  „Ich schaue mir ein bisschen die Gegend an“, sagte er. „Soll ich sie dir zeigen?“, bot ich ihm an. „Ja, das wäre schön. Ich weiß noch gar nicht, wo ich bin.“ Also gingen wir los und ich versuchte ihm all die schönsten und coolsten Orte in der Nähe zu zeigen. Dabei redeten wir ziemlich viel. Als es Zeit wurde, nach Hause zu gehen, fragte ich ihm, ob er den Weg wisse und ging dann selbst auch nach Hause. An diesem Abend fiel es mir schwerer als sonst einzuschlafen, denn ich dachte immer wieder an Jayden. Selbst als ich irgendwann eingeschlafen war, träumte ich noch von ihm. 

Von da an trafen wir uns immer öfter, auch mit Miriam und anderen Freunden und Jayden lebte sich immer besser ein. Als dann die Sommerferien anfingen, fuhr er leider für zwei Wochen zu seiner Mutter nach Berlin. In dieser Zeit verbrachte ich zwar viel Zeit mit Miriam und den anderen, doch ich chattete fast täglich auch mit Jayden. Als er dann endlich wieder zurück war, unternahmen wir viel zusammen, allerdings waren immer auch andere Freunde dabei. In der letzten Woche vor Schulbeginn, schrieb Jayden mir, dass er etwas mit mir vorhabe. Er holte mich von Zuhause ab und wir fuhren mit dem Fahrrad bis zu einer Wiese. Dort angekommen, breitete Jayden eine Picknickdecke aus, die er mitgebracht hatte und stellte einige Leckereien auf die Decke. Wir setzten uns hin und fingen an zu essen. Wir spürten gar nicht wie die Zeit verging und die Sonne schwächer wurde. „Es wird schon etwas kühler“, sagte Jayden. „Willst du vielleicht meine Jacke haben?“ „Aber dann ist dir doch kalt“, erwiderte ich. „Nein, alles gut, mein Pulli ist warm genug“, sagte er und legte mir seine Jacke um die Schultern. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. „Danke“, sagte ich leise und lächelte ihn an. Er lächelte zurück und ich verlor mich in seinen unglaublichen blauen Augen. Wir kamen uns immer näher, bis unsere Lippen sich berührten und wir uns im Sonnenuntergang küssten.

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An deiner Geschichte gefallen mir besonders die vielen tollen Beschreibungen. Man kann sich alles sehr gut vorstellen

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