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Der Mantel – von Ruben Hacker

  • Writer: Brigitte Leeser
    Brigitte Leeser
  • May 10, 2020
  • 6 min read

Die Sonne schien. Es war neun Uhr dreißig, und Licht flutete mein Zimmer. Als ich aufwachte, lag wie jeden Sonntag der Geruch von frischen Brötchen mit Erdbeermarmelade in der Luft. Nach kurzer Überlegung entschied ich mich, noch ein paar Minuten im Bett liegen zu bleiben und mein Lieblingsbuch Chick weiterzulesen. Als ich nach dem Buch greifen wollte, welches auf meinem Nachttisch neben meinem Bett lag, fiel mir ein kleines unscheinbares Paket ins Auge. Hätte es nicht unerwartet mitten in meinem Zimmer gelegen, wäre es mir wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Interessiert wendete ich mich dem Paket zu. Ich dachte gar nicht lang drüber nach und riss den Deckel von der Box. In der Box lag ein unglaublich hässlicher Mantel. Enttäuscht trat ich das Paket weg und wendete mich wieder meinem Buch zu. Doch aufs Lesen konnte ich mich nicht konzentrieren. Ständig ging mir die Frage durch den Kopf, auf welchem absurden Weg das Paket wohl in mein Zimmer gekommen war. Es waren kaum fünf Minuten vergangen, da saß ich schon wieder vor der geheimnisvollen Box.

Bei genauerem Hinsehen konnte ich erkennen, dass der Mantel nicht nur viel zu groß für mich war, sondern er die Farbe wechselte. Von links war er mal weiß von rechts dann blau. Merkwürdig! Da kam mir der Gedanke, dass ich den Mantel trotz seiner Übergröße ja mal anziehen könnte. In dem Moment, als ich mir den Mantel über den Kopf stülpte, stieg mir ein beißender Geruch in die Nase. Voller Ekel wollte ich den Mantel abwerfen und zu meinem Bruder ins Zimmer rennen, der mir bestimmt mal wieder einen blöden Streich gespielt hatte, doch als ich ihn versuchte auszuziehen, merkte ich, dass er sich wie von Zauberhand an meinen Körper festgezogen hatte. Schockiert schaute ich mich im Spiegel an und sah – NICHTS! Ich war unsichtbar.! Ab diesem Zeitpunkt war mir der Geruch egal.

In meinem Kopf überschlugen sich die Ideen für Sachen, die ich anstellen könnte. Ich dachte zuerst an den Kiosk vorne bei uns in der Straße, und wie ich unendlich viele Süßigkeiten nehmen könnte, ohne auch nur einen Cent meines ohnehin schon raren Taschengeldes zu opfern. Plötzlich verschwamm alles um mich herum, und mir wurde schrecklich übel. Als das aufhörte, saß ich, nur in Unterhose und mit dem Mantel übergestülpt im Kiosk direkt vor dem Süßigkeiten Regal. Langsam wurde mir klar, dass der Mantel nicht ein Streich meines Bruders gewesen sein konnte.

Ich rappelte mich auf, und wollte gerade anfangen, mir die Süßigkeiten zu greifen, als mich eine Stimme von unten neben meinem Bein aufschrecken ließ. „Das ist nicht legal du Lausbengel“, tönte es. Ich guckte erschrocken nach unten und sah einen alten ungepflegten Dackel, der von einer rundlichen kleinen Frau an der Leine geführt wurde. Verwundert sah ich mich nach der Frau um und versuchte zu erkennen, ob sie den Hund auch sprechen gehört hatte. Doch falls ja, ließ sie es sich nicht anmerken.

Ich schaute wieder runter auf den Hund und kam mir selbst gerade ziemlich verrückt vor, doch ich fragte leise, in der Angst, dass mich die Frau, die mich anscheinend nicht sah, hörte: „Hast du gerade mit mir geredet?“ Ich rechnete schon fast damit, dass der Hund antworten würde und als dieser daraufhin nickte, wunderte es mich nicht. In meinem Kopf zählte ich die Verwandlungskräfte des Mantels, die ich schon entdeckt hatte. Da war als erstes die Unsichtbarkeit, dann konnte ich mich teleportieren, und ich konnte mit Tieren sprechen.

Noch während ich darüber nachdachte, fing der Hund schon wieder an zu sprechen. „Es hat einen Grund, dass du den Mantel bekommen hast, und du hast nicht viel Zeit. Finde jene, die dir am nächsten sind und erkenne den Verräter!“ Ich blickte den Hund verwundert an, und wollte gerade Fragen, welchen Grund es hatte, mir, einem stinknormalen fünfzehnjährigen Zehntklässler, einen Mantel mit Superkräften zu geben, doch da zog ihn die dicke kleine Frau schon aus dem Laden und in einen roten Chevrolet hinein und er war verschwunden. Frustriert und verwirrt verließ auch ich den Laden. Ich hätte mich direkt in mein Zimmer teleportieren können, doch ich brauchte noch etwas frische Luft und Bewegung, um einen klaren Kopf zu bekommen.

An der Kreuzung, die direkt neben unserem Haus verlief, erinnerte ich mich wieder an einen traurigen Vorfall von früher, an den ich lange nicht gedacht hatte. Meine Eltern hatten sich tierisch gestritten, weil mein Vater seinen Job verloren und meiner Mutter dafür die Schuld gegeben hatte. Mein Bruder und ich waren oben in meinem Zimmer gewesen, und hörten nur, wie sie sich unten anschrien. Nach ein paar Minuten hielt ich es nicht mehr aus, stürmte ins Bad und fing an zu weinen. Traurig betrachtete ich mich im Spiegel, verheult und klein, wie ich damals war. Gedankenverloren sah ich aus dem Fenster wie ein großer Lastwagen auf die Kreuzung zufuhr. Ich nahm das Geräusch der Vordertür unseres Hauses kaum war, als sie aufschwang und jemand rausrannte. Plötzlich Reifenquietschen! Ich hörte einen schrecklichen Schrei und einen dumpfen Aufprall. Ich blickte auf die Kreuzung, doch ich wollte nicht wahrhaben was ich sah. Meine Mutter lag komisch verrenkt auf der Kreuzung, vor ihr der massige LKW. Starr vor Schreck blieb ich einige Sekunden am Badfenster stehen. Dann rannte ich rüber in mein Zimmer und rief meinen Bruder, doch der war nicht da. Als ich dann runter zur Straße rannte, waren mein Vater und mein Bruder schon da. Beide hatten Tränen in den Augen. Nach ein paar Wochen begannen mein Vater und mein Bruder und auch alle Bekannten, sich mit dem Unfall abzufinden. Doch ich hatte zu viele Fragen. Das alles war jetzt genau drei Jahre her. Als ich an der Kreuzung stand und mit meinem Mantel so wartete, fing sich plötzlich alles zu drehen an. Als ich wieder festen Boden unter den Füßen spürte, stand ich noch immer an derselben Stelle. Eigentlich hatte ich mich bisher doch immer nur gedreht, wenn der Mantel teleportierte. Sonderbar! Die Straße war jetzt frei und ich ging rüber zur Eingangstür unseres Hauses. In dem Moment als ich klingelte, hörte ich Geschrei aus der Küche. Als meine Mutter wutentbrannt die Tür aufriss, blieb mein Herz fast stehen. „Paul Schatz, wo bist du gewesen“, fragte sie besorgt. Ich hörte meinen Vater von hinten rufen: „Kelly, wer ist denn da?“ Darauf meine Mutter kurz angebunden: „Paul“. Ich wagte einen Blick auf meinen Körper. Was ich sah, ließ mich fast aufschreien. Ich hatte nur den Mantel und die Unterhose an. Aber vor mir stand meine Mutter. Als ich eins und eins zusammenzählte, wurde mir klar, dass ich in der Zeit genau drei Jahre zurückgereist war- an den Todestag meiner Mutter! Aber warum konnten meine Eltern mich sehen?

Jäh riss mich die Stimme meines Vaters aus meinem Grübeln: „Paul verpiss dich nach oben, ich und deine Mutter haben hier noch was zu klären!“ Noch immer unter Schock ging ich die Treppen hoch in mein Zimmer. Da saß mein Bruder auf meinem Bett. Mein früheres Ich war nicht da. Wahrscheinlich ersetzte Ich nun mein früheres Ich. Ich sprach ihn an, doch er reagierte nicht. Auch bei der zweiten und dritten Ansprache reagierte er nicht. Er hörte mich einfach nicht und offenbar sah er mich auch nicht! Frustriert blieb ich in der Mitte des Zimmers stehen.

Oben war es ruhig. Das einzige was man hörte waren die Schreie meiner Eltern von unten. Plötzlich war mir klar, dass ich versuchen musste, meine Mutter zu retten. Als ich die Tür unten aufgehen hörte, sprintete ich los. Komisch war, dass mein Bruder dasselbe tat, doch das kümmerte mich nicht weiter. Ich kam gerade an der Straße draußen an, als meine Mutter rasch auf die Kreuzung zuging.

Merkwürdig war, dass sie ging und nicht rannte, wie im Polizeibericht geschrieben. Da hörte ich hinter mir Schritte, und ich sah wie mein Bruder mit verbissenem Blick an mir vorbeiraste. Diesen wütenden Blick hatte er oft gehabt, wenn Mama Und Papa sich stritten. Da traf es mich wie ein Blitz! Mein Bruder war nicht nur dabei gewesen, er musste meine Mutter vor den LKW geschupst haben. Ich sah wie mein Bruder meiner Mutter immer näherkam. Verzweiflung packte mich. Wie konnte ich meine Mutter retten? Ich rannte an die Ecke der Kreuzung, wo meine Mutter stand. Im letzten Moment riss ich sie zur Seite, als mein Bruder zu einem Bodycheck ansetzte, um meine Mutter auf die Straße zu schubsen. Entsetzt musste ich zusehen, wie mein Bruder sein Ziel verfehlte und taumelte. Ich war wie erstarrt! Ich sah wie der LKW angefahren kam, und noch versuchte zu bremsen, wie mein Bruder hilflos in die Luft geschleudert wurde und mit einem dumpfen Knall auf den Asphalt aufschlug. Ich wollte hinrennen, aber ich konnte nicht. Irgendetwas hielt mich zurück. Plötzlich fühlte ich mich unglaublich schwach. Als ich an mir runter sah, war der Mantel verschwunden. Dann wurde mir schwarz vor Augen.

Als ich aufwachte, fand ich mich in einem weißen Raum in einem Bett wieder. Eine Frau kam zu mir, sie sah sehr freundlich aus. „Wir sind in einer Arztpraxis, oder?“ fragte ich. Die Frau antwortete daraufhin: „Ja. Du hattest einen schweren Fahrradunfall. Du wurdest von einem Lastwagen angefahren, und hast nun seit vier Wochen in Koma gelegen.“ Langsam vielen mir die Situationen ein, die ich erlebt hatte. „Wo ist meine Familie?“ „Sie warten draußen auf dich.“ Als ich dann meine Familie ins Zimmer kommen sah, viel mir ein unglaublich großer Stein vom Herzen. Überglücklich umarmte ich sie. Nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, und nach Hause zurückgekehrt war, entschied ich mich all das, was ich im Koma erlebt hatte, aufzuschreiben.

 
 
 

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1 Comment


tatja
May 10, 2020

Mir hat an deiner Geschichte besonders die Art des Schreibens und das überraschende Ende gefallen. Ich habe mich gefühlt als wäre ich hautnah dabei gewesen.

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