Mühsam faltete ich den nächsten Umzugskarton und griff nach meinem Edding. „BÜCHER“ prangte jetzt in breiter Schrift auf der braunen Pappe. Ein Großteil meiner Sachen war schon in den vielen anderen Kartons und Tüten verstaut, die sich bereits an der Wand stapelten und es würden wohl noch einige dazukommen. Ich stand gähnend auf und trug eine Vielzahl meiner Krimis vom Regal herüber, dabei schwankten der Stapel gefährlich und drohte, mir aus den Armen zu rutschen. In einem hohen Bogen flogen die Bücher durch die Luft und knallten gegen meinen Schrank. Ich seufzte entnervt und gerade als ich alle wieder aufsammeln wollte, schwang meine Zimmertür auf und meine Mutter hechtete herein. „Ist alles gut? Ist etwas passiert?“, fragte sie erschrocken. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Stirn lag in Falten. Hinter ihr tauchte meine elfjährige Schwester Adriana im Türrahmen auf. „Nein, es ist nichts. Mir sind nur die Bücher …“ Ich hielt inne und beäugte das Durcheinander. Es war schon vorher unordentlich gewesen, aber jetzt war es das reinste Chaos. Hier und da lagen Sachen, die ich später einzupacken gedachte oder die zum Wegwerfen waren. Der gesamte Parkettboden war übersehen von Papierschnipseln, Scheren, Packband und auch jeder Menge Müll. Jetzt war ich es, die die Stirn runzelte und verzweifelt dreinsah. Erleichtert atmete meine Mutter auf und Adriana kam auf mich zu, um mir zu helfen. „Schafft ihr zwei das ohne mich?“ Es war wohl eine rhetorische Frage, denn ohne unsere Antwort abzuwarten, verließ sie den Raum. Ich kniete nieder und streckte meinen Arm unter dem besagten Schrank aus, weil mein Lieblingsbuch versehentlich dort gelandet war. Doch stattdessen zog ich eine alte verstaubte Kiste hervor, sie war ursprünglich schwarz und besaß die Größe eines Schuhkartons. Meine Schwester blickte verwundert auf und warf mir einen fragenden Blick zu. Ich zuckte ahnungslos mit den Schultern. Ich hatte diese Kiste noch nie in meinem Leben gesehen. Behutsam nahm ich den Deckel ab und musterte den Inhalt. Er bestand hauptsächlich aus belanglosem Zeug, wie zum Beispiel zwei Würfeln, ein paar alten Postkarten, einem Armband und einem abgenutzten Bleistift – nichts Besonderem. „Hey, das ist meins! Ich dachte ich hätte es verloren als ich sieben war!“, schnaubte Adriana empört. Sie machte mir Vorwürfe, von wegen ich hätte es ihr damals geklaut. Dann stampfte sie samt Armband aus dem Zimmer. Ich schob die Kiste nun zur Seite, weil ich kurzerhand beschlossen hatte, sie auf die Liste der zu entsorgenden Dinge zu setzen und suchte erneut nach meinem Lieblingsbuch.
Nach dem Mittagessen war an eine Pause nicht zu denken, die Spüle war voll von dreckigem Geschirr, an dem Pizzareste klebten. Angewidert nahm ich den Schwamm zur Hand und drehte den Wasserhahn auf. Meine Tante Colette drapierte sich neben mir und trocknete das saubere Geschirr anschließend ab. „Warum war Adriana denn so eingeschnappt beim Essen?“, fragte sie nach einer Weile. „Weil wir eine Kiste unter meinem Schrank gefunden haben, darin ihr Armband war, dass sie angeblich mal verloren hat. Sie denkt jetzt, ich hätte es ihr weggenommen...“ Ich lachte und schüttelte den Kopf. „Dabei habe ich ihr Armband nicht mal angerührt“, erklärte ich ihr. „Sie kriegt sich schon wieder ein“, antwortete sie nachdenklich. Als wir fertig waren, ging ich zurück in mein Zimmer und zuckte zusammen, als ich bemerkte, dass meine kleine Schwester wieder vor der Kiste hockte und darin herumwühlte. Entsetzt fauchte ich sie an, sie dürfe nicht einfach ohne mich zu fragen hier reingehen und meine Sachen anfassen. Sie zog eine Augenbraue hoch. „Ich wollte nur wissen, ob du noch mehr von meinen Sachen hast!“, rief sie anschuldigend. Meine Tante hielt ihren Kopf ins Zimmer und seufzte resigniert: „Adriana, leg die Kiste…“ Sie hielt inne, als ihr Blick auf die schwarze Kiste fiel. „Darf ich mal sehen?“ Ich nickte, weil mich etwas an ihrem Gesichtsausdruck irritierte. Ich glaubte eine Mischung aus Verwirrung, Überraschung und Aufregung zu erkennen. Doch da war noch was anderes, etwas, das ich nicht deuten konnte. Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und begutachtete, was vor ihr lag. Sie strich so behutsam über das verstaubte Material, als ob es ihr Schatz wäre, ihr kostbarster Schatz, und wirkte dabei so kindlich, dass ich meine Tante kaum wiedererkannte. Sie lächelte leicht. Aber in dem Lächeln war auch etwas Trauriges. Das machte mich nur noch neugieriger darauf, was diese mysteriöse Kiste bedeuten mochte. Doch Colettes Lippen waren versiegelt. Als sie den Deckel von dem Rest löste, huschte eine Träne über ihre Wange. Allmählich fing ich an, mir Sorgen zu machen. „Was ist los?“, fragte Adriana ebenfalls besorgt. Bis jetzt hatte sie die ganze Zeit nur still daneben gesessen und das Szenario beobachtet. „Ist was passiert?“, fragte sie wieder und wandte sich nun an mich. Schulterzuckend bedeutete ich ihr, dass ich selbst keine Ahnung hatte. Endlich ergriff meine Tante das Wort und begann uns die Geschichte zu erzählen. „Als eure Mutter und ich kleiner waren, hatten wir nicht viel. Unsere Eltern, eure Großeltern, haben hart gearbeitet, aber sie wurden nie gut bezahlt.“ „Aber ich dachte, ihr seid in dieses Haus gezogen, als ihr ungefähr in unserem Alter wart. Ich meine, es sieht nicht gerade billig aus“, unterbrach ich sie. Unbeirrt fuhr sie fort, doch sie hatte auch meinen Einwand verstanden. „Ja, das stimmt. Lass mich dir die ganze Geschichte erklären. Jedenfalls haben wir als Kinder angefangen Dinge zu sammeln, die für uns wertvoll waren. Kommt mal her, ich möchte euch was zeigen!“ Wir rückten ein Stück näher aneinander und Colette nahm die beiden Würfel, die ich vorhin gedanklich als belanglos bezeichnet hatte, in die Hand. Man konnte sehen, wie sehr sie in Erinnerungen schwelgte. „Was ist so besonders an denen?“, meldete sich wieder meine Schwester zu Wort. Ich stieß ihr mit dem Ellenbogen in die Rippen und erntete einen wütenden Blick. „Sagen wir mal so, wir konnten damals Stunden damit verbringen, uns selber Spiele auszudenken und haben uns so die Zeit vertrieben. Dabei hatten wir die Würfel nur zufällig auf dem Schulweg nach Hause gefunden. Wir mussten zu Fuß laufen, weil wir den Bus verpasst hatten. Na ja, nach ein paar Jahren bekamen eure Großeltern dann doch eine besser bezahlte Arbeit, doch dafür mussten sie viele Reisen machen, die von ihrem Arbeitgeber finanziert wurden. Wir sind für anderthalb Jahre bei unseren Nachbarn geblieben und haben gelegentlich Postkarten von unseren Eltern bekommen. Die haben wir natürlich auch aufbewahrt.“ Sie hob eine Postkarte hoch und überflog die einzelnen Sätze, die dort in einer wunderschönen Handschrift geschrieben standen. Zu gern würde ich jetzt wissen, was in all den anderen Zeilen auf den anderen Karten stand. „Als sie dann zurückkamen, waren wir nicht länger arm. Genaugenommen war das Gegenteil der Fall. Wir konnten uns nun vieles leisten, dazu gehörten Dinge, die wir uns nicht einmal im Traum hätten vorstellen können. Von einem neuen Haus und Urlaubsreisen bis hin zu einem mit Geschenken vollgestellten Weihnachtsbaum. Aber auch wenn wir von da an alles hatten, was wir uns wünschten, hörten wir nicht auf Dinge, die uns wichtig waren, aufzubewahren. Es war wie eine Tradition, mit der wir nicht aufhören konnten. Als ich auszog, behielt eure Mutter die Kiste. Ehe ihr geboren wurdet, war das ihr Zimmer.“ Das zusammen ergab Sinn, mal abgesehen davon, dass wir immer noch nicht wussten, wie Adrianas Armband in der Kiste gelandet war. Die Geschichte war allerdings wirklich schön und rührend. Wir genossen es Colette, den Rest des Nachmittags zuzuhören, wie sie uns all die anderen Geschichten zu den Erinnerungsstücken in der Kiste erzählte. Wir lachten viel und weinten ab und zu, es war ein gelungener Tag. Doch man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben, daran hätte ich denken müssen. Denn am Boden der Kiste befand sich noch etwas, das durch die anderen Sachen verdeckt wurde. Es war ein Foto, worauf eine Frau mit einem Baby zusehen war. Ihr Gesicht kam mir bekannt vor. Sie schien im Krankenhaus zu sein, das erkannte man an den Monitoren im Hintergrund und an ihrer Kleidung. Glücklich und erschöpft zugleich lächelte sie in die Kamera, neben ihr ein Mann mit einem ebenso herzlichem Lächeln. Ich hielt das Foto in der Hand und überlegte, wer das wohl sein könnte. „Dieses Baby, das bist doch du… oder nicht?“ Adriana sprach genau das, was ich dachte, laut aus. Das war ich. Das war ich in den Armen einer fremden Frau. „Da steht was auf der Rückseite!“ Ihre Stimme klang aufgeregt. Zögernd drehte ich das Foto, sodass ich die Ziffern lesen konnte. „Mein Geburtsdatum“, flüsterte ich heiser. Dann sah ich in das erschrockene jedoch keineswegs verwunderte Gesicht meiner Tante. Sie war blass geworden. Aber nicht mal annähernd so blass wie ich.
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